Synergieeffekte bei Zertifizierung und Erstattung digitaler Gesundheitsanwendungen

patient centricity

Zwei Expertinnen für Zertifizierung und Erstattung – ein Ergebnis ihres Gesprächs:

Gut geplant können Synergien in den beiden Prozessen genutzt werden.

  • Bereits bei der Produktentwicklung und Zertifizierung planen, wie der Weg in die Erstattung aussehen könnte.

  • Schon bei der Konformitätsbewertung müssen die Weichen zur Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis richtig gestellt werden.

  • Synergien lassen sich insbesondere bei der systematischen Literaturrecherche und der Erhebung klinischer Daten nutzen.

Da mehr und mehr Medizinprodukte auch im App-Bereich entwickelt werden, hat der Gesetzgeber den Herstellern digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) durch das „Digitale-Versorgungs-Gesetz“ (DVG) die Möglichkeit eröffnet, ihre „App auf Rezept“ von den Krankenkassen erstatten zu lassen. Eine Voraussetzung hierfür ist die Zertifizierung der DiGA als Medizinprodukt der Klasse I oder IIa.

Zudem muss eine „App auf Rezept“ ins DiGA-Verzeichnis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen werden, damit sie erstattet werden kann. Dies bringt einige Hürden für die Hersteller mit sich, da dazu der Nachweis eines positiven Versorgungseffekts für die digitale Gesundheitsanwendung erforderlich ist. Damit dieser positive Versorgungseffekt auch belegt werden kann, müssen quantitativ und qualitativ aussagekräftige klinische Daten für die digitale Gesundheitsanwendung vorliegen, die im Idealfall aus einer randomisiert kontrollierten klinischen Studie (RCT) stammen.

Im Gespräch erörtern Dr. Andrea Röthler, Leiterin Fachgruppe Medizinprodukte und Manager Regulatory Affairs der GKM – Gesellschaft für Therapieforschung mbH, und Dr. Pamela Aidelsburger, Geschäftsführerin der CAREM GmbH mögliche Schnittstellen und Synergien zwischen Zertifizierung als Medizinprodukt und der Antragstellung zur Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis beim BfArM.

Pamela Aidelsburger: Bei der Beratung von Herstellern digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) erleben wir oft, dass die Zertifizierung der App als Medizinprodukt als vorgeschalteter eigenständiger Prozess gesehen wird. Vorgaben des Digitalen Versorgungsgesetzes (DVG) im Hinblick auf die Erstattungsfähigkeit der DiGA durch die gesetzlichen Krankenkassen werden zu diesem Zeitpunkt meist noch gar nicht bedacht.

Aber die Tatsache, dass ein positiver Versorgungseffekt der DiGA anhand valider klinischer Daten mittels einer vergleichenden Studie (gemäß DVG § 16) zu belegen ist, sollte die Hersteller aufhorchen lassen. Bereits im Rahmen der initialen Konformitätsbewertung, bzw. der CE-Zertifizierung als Medizinprodukt sollten sich DiGA-Hersteller Gedanken darüber zu machen, welche Art von klinischen Daten zur Zertifizierung, bzw. später zum Nachweis eines patientenrelevanten therapeutischen Effekts im Rahmen der Antragsstellung beim BfArM vorliegen müssen. Für mich stellt sich deshalb die Frage, wie der Weg in die Erstattung bereits im Rahmen der Produktentwicklung und Zertifizierung effizient gestaltet werden kann.

Andrea Röthler: Für die Zertifizierung als Medizinprodukt muss der Hersteller einer digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eine klinische Bewertung vorlegen. Ziel der klinischen Bewertung ist es, die grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen des Medizinprodukts in der klinischen Anwendung anhand klinischer Daten zu belegen. Diese Daten können aus unterschiedlichen Quellen stammen, wobei Unterschiede zu beachten sind.

  • Literaturdaten:
    Literaturdaten kann ein Hersteller zukünftig nur noch dann zum Nachweis der Übereinstimmung mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen heranziehen, wenn er zeigen kann, dass die Daten des Vergleichsprodukts, auf das er referenziert, nachgewiesenermaßen gleichartig (gemäß Anhang XIV Abschnitt 3 MDR) sind zum eigenen Produkt und in geeigneter Weise die Übereinstimmung mit den einschlägigen Sicherheits- und Leistungsanforderungen zeigen. Dies wiederum setzt voraus, dass der Hersteller über einen hinreichenden Zugang zu den Daten des Vergleichsprodukts verfügt, um den geforderten Nachweis zu erbringen.

  • Klinische Erfahrungsdaten:
    Auch ein Bezug auf Erfahrungsdaten z. B. von Vorgänger- oder Konkurrenzprodukten erfordert den Nachweis der Gleichartigkeit. Wenn dieser nicht zu erbringen ist, können klinische Prüfungen erforderlich werden.

  • Klinische Prüfungen:
    Bei der Konzeption klinischer Prüfungen mit eigenen Produkten sollte man darauf achten, neben Sicherheit und Leistung sowie positivem Nutzen-Risiko-Verhältnis (den für die Zertifizierung relevanten Parametern) bereits den klinischen Nutzen (den für die Erstattungsfähigkeit maßgeblichen Parameter) aufzuzeigen, wenn möglich über eine vergleichende Studie..

PA: Da finden sich schon einige Übereinstimmungen zum Antragsprozess einer DiGA beim BfArM. Auch hier müssen Daten aus einer vergleichenden Studie vorliegen und eine systematische Literaturrecherche durchgeführt werden, die den angenommenen Kausalzusammenhang zwischen Intervention und positivem Versorgungseffekt belegt bzw. die Annahme des Kausalzusammenhangs stützt. Dabei können auch Ergebnisse aus Studien/klinischen Prüfungen gleichartiger Produkte und des eigenen Produkts relevant sein. Für DiGA-Hersteller kann das bedeuten, dass eine gut aufgesetzte Literaturrecherche für die Zertifizierung zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen in der BfArM-Antragsstellung einsparen hilft. Allerdings gilt es bereits im Rahmen der initialen Konformitätsbewertung zu prüfen, ob solche Daten überhaupt genutzt werden können oder ob klinische Daten mit dem eigenen Produkt über eine klinische Prüfung zu erheben sind.

Sie hatten gerade auch die Themen klinische Erfahrungsdaten und klinische Prüfung mit dem eigenen Produkt angesprochen. Müssen denn alle Medizinprodukte für die Konformitätsbewertung klinische Daten beibringen? Und welche Voraussetzung gibt es für diese Daten?

AR: Grundsätzlich erfolgt die klinische Bewertung auf Basis klinischer Daten. Nur in bestimmten Ausnahmefällen kann auf klinische Daten verzichtet werden. Voraussetzung ist, dass der Hersteller von absolut unkritischen Produkten (z. B. Holzmundspatel) gebührend begründen kann, warum er den Nachweis der Übereinstimmung mit grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen alleine auf der Grundlage der Ergebnisse nicht-klinischer Testmethoden, einer Leistungsbewertung/technischen Prüfung oder aufgrund der Ergebnisse der vorklinischen Bewertung für geeignet hält.

In der Regel jedoch sind klinische Daten erforderlich, die durch die strengeren Maßstäbe in der MDR mehr und mehr aus klinischen Prüfungen mit den eigenen Produkten stammen müssen. Denn mit Bezug auf die Äquivalenzbetrachtung und die notwendigen klinischen Daten fordert die MDR, dass diese in quantitativer und qualitativer Hinsicht die klinische Evidenz ausreichend belegen müssen.

Deshalb ist es umso wichtiger, bereits entwicklungsbegleitend die klinische Datenlage zum eigenen Produkt zu prüfen und rechtzeitig zu erkennen, ob auf Basis der vorliegenden klinischen Datenlage eine Studie mit dem eigenen Produkt durchzuführen ist. Über diese kann ggf. ein patientenrelevanter therapeutischer Effekt der DiGA gegenüber der Nichtanwendung gleich mit gezeigt werden. Aus methodischer Sicht liefert hier eine vergleichende Studie hinsichtlich der Evidenz sicherlich eine ausreichend hohe Ergebnissicherheit.

PA: Das Vorliegen oder die Durchführung einer vergleichenden Studie ist in der Antragstellung beim BfArM Voraussetzung für eine Listung im DiGA-Verzeichnis und bestimmt auch, ob ein endgültiger Antrag (bei Vorliegen von Studienergebnissen) oder ein vorläufiger Antrag (geplante Studie) gestellt wird. Wenn ein DiGA-Hersteller einen vorläufigen Antrag stellt, dann muss er dennoch erste quantitative Daten zu seinem Produkt berichten. Das BfArM schaut hier bereits genau hin, welche Erhebungsinstrumente benutzt und welche Endpunkte untersucht wurden.

Insofern wäre es für einen DiGA-Hersteller doch der ideale Weg, wenn Daten aus der klinischen Prüfung der DiGA als Medizinprodukt entweder als erste quantitative Daten für die Antragstellung beim BfArM genutzt werden könnten oder sogar gleich für einen endgültigen Antrag beim BfArM. Denken Sie ein solches Vorgehen ist realistisch durchführbar?

AR: Absolut. Genau so sollte man vorgehen, wenn man als Hersteller eine neue DiGA entwickelt. Bereits im Rahmen der initialen Konformitätsbewertung ist im Rahmen der klinischen Bewertung die klinische Datenlage des eigenen Produkts kritisch zu prüfen. Reichen die vorhandenen klinischen Daten wirklich aus, um im Rahmen der späteren Antragstellung beim BfArM einen therapeutischer Effekt für seine DiGA aufzeigen zu können? Hier ist zu empfehlen, solch fehlende Daten gegebenenfalls bereits vor dem erstmaligen Inverkehrbringen im Rahmen einer klinischen Prüfung gleich mit zu erheben, um nicht nach dem erstmaligen Inverkehrbringen weitere Studien durchführen zu müssen. Sollten Studien vor dem erstmaligen Inverkehrbringen nicht notwendig werden, kann das selbstverständlich auch im Rahmen von Post-Market Clinical Follow-up (PMCF)-Studien gezeigt werden, was allerdings die Antragstellung beim BfArM zeitlich nach hinten verlagern kann.

PA: Am 26. Mai 2021 wird die MDR vollständig und verbindlich in Kraft treten. Damit stehen auch DiGA-Hersteller vor der Frage, ob und wie eine Re-Zertifizierung stattfinden wird.

Könnten die Daten aus der vergleichenden Studie für einen vorläufigen BfArM-Antrag hier für die Re-Zertifizierung verwendet werden?

AR: Zur Re-Zertifizierung nach MDR muss der Hersteller in erster Linie prüfen, ob er alle Eigenschaften seines Produkts im Hinblick auf die klinische Leistungsfähigkeit und Sicherheit über ausreichend klinische Daten belegen kann. Im Rahmen einer Gap-Analyse müssen die Hersteller die klinische Datenlage basierend auf der aktuell vorliegenden klinischen Bewertung prüfen. Ggf. vorhandene Datenlücken müssen durch proaktive PMCF-Maßnahmen, wie z. B eine PMCF-Studie, geschlossen werden. Hier gibt es durchaus die Möglichkeit, die Studie so zu gestalten, dass die Ergebnisse dazu beitragen, sowohl die vorhandenen Datenlücken für die Re-Zertifizierung zu schließen als auch geeignete Daten für die Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis zu liefern. Es macht also durchaus Sinn, sowohl die Anforderungen der MDR als auch die Vorgaben in der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) bei der Planung und Durchführung der Studie zu berücksichtigen.

Synergien für die Daten zur DiGA lassen sich hier über den klinischen Nutzen generieren. Lt. Artikel 2 Absatz 53 der MDR bezeichnet „klinischer Nutzen“ „die positiven Auswirkungen eines Produkts auf die Gesundheit einer Person, die anhand aussagekräftiger, messbarer und patientenrelevanter klinischer Ergebnisse einschließlich der Diagnoseergebnisse angegeben werden, oder eine positive Auswirkung auf das Patientenmanagement oder die öffentliche Gesundheit haben“.

PA: Herzlichen Dank Frau Dr. Röthler für das Gespräch. Bei guter und rechtzeitiger Planung können bereits im Rahmen der initialen Konformitätsbewertung die Weichen für eine DiGA im Hinblick auf die Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis gestellt werden.

Fazit

Bereits im Rahmen der initialen klinischen Bewertung sollten sich DiGA-Hersteller Gedanken machen, ob und wie die DiGA in die Erstattung gebracht werden soll und welche klinischen Daten hierzu notwendig sind. Wer vorausschauend plant, kann sowohl zeitliches als auch finanzielles Einsparpotential nutzen. Insbesondere in der systematischen Literaturrecherche und der Erhebung erster klinischer Daten finden sich Synergien.

Erstveröffentlicht auf Medtec Online am 07.05.2021

Picture: @MarekPhotoDesign.com/AdobeStock.com

 

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